Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Jonas Flöter.

 

Die sich überlagernden Krisensituationen im deutschen Bildungssystem beschleunigen den Wandel im Selbstverständnis der Schulaufsicht. Die Forderungen nach umfassender Beratung, Förderung und Unterstützung der Schulen sowie der Schulleitungen können aber nur in Verbindung mit wirkungsorientierten Aufsichts- und Kontrollaufgaben realisiert werden. 

Zentrale Rolle bei Krisenbewältigung

Mit Beginn der Covid-19-Pandemie wurden die Schulen vor bisher nicht gekannte Herausforderungen gestellt: Die Pandemie traf an den Schulen sowohl auf eine problematische Unterrichtsversorgung als auch auf eine mangelhafte digitale Ausstattung. Bei der Bewältigung dieser sich dreifach überlagernden Krisensituation im Schulsystem, wurde die Schlüsselstellung der Schulaufsicht deutlich. Erschwerend kam allerding hinzu, dass die Aufgaben und die Rollen der Schulaufsicht keineswegs klar definiert sind. 

Vielfältige Aufgaben 

Wie komplex das Aufgabenspektrum der Schulaufsicht ist, skizzierte Christoph Burkard bereits Ende des 1990er Jahre. Danach sind es vor allem vier Bereiche, die der Schulaufsicht zukommen (vgl. Burkard 1998):
 

Vorschriftenkontrolle:

Schulaufsichtsbeamte haben die Einhaltung der geltenden Vorschriften, Erlasse und Gesetze durch die in den Schulen Verantwortlichen zu kontrollieren. 

Personalentwicklung:

Aufgabe von Schulaufsichtsbeamten ist es, schulisches Personal auszuwählen und zu beurteilen, Beförderungen und Versetzungen zu begleiten und umzusetzen sowie dienstliches Fehlverhalten zu sanktionieren. 

Systemische Qualitätsevaluation:

Aufgabe von Schulaufsichtsbeamten ist es, die Qualität der schulischen Arbeit auf den Stufen der einzelnen Lehrpersonen, der schulischen Führungskräfte, der schulischen Teilsysteme und damit des Schulsystems insgesamt zu fördern und zu entwickeln. 

Unterstützung individueller personaler Lernprozesse:

Schulaufsichtsbeamten fällt die Aufgabe zu, einzelne Lehrpersonen in ihrer persönlichen Entwicklung und Laufbahngestaltung zu fördern und zu begleiten. 

© Jonas Flöter, eigene Darstellung

Aufgabenverlagerung leitet Wandel ein

Mit Beginn der Krise in der Unterrichtsversorgung 2015/16 wurden die unterschiedlichen Aufgabenbereiche der Schulaufsicht stärker getrennt voneinander betrachtet. Sowohl das Arbeitsfeld der Personalentwicklung als auch das der schulfachlichen Aufsicht begannen sich zu wandeln. Während die Schulverwaltung, als Teil der Schulaufsicht, sich seither darauf konzentrieren muss, kreative Wege zu finden, um Lehrkräfte zu rekrutieren, führte die zunehmende Aufgaben- und Verantwortungsverlagerungen an den Schulen zu Veränderungen im Aufgabenbereich der schulfachlichen Schulaufsicht. Die schulfachliche Aufsicht wird jetzt stärker in ihrer Rolle als Kooperationspartnerin in der Schulentwicklung wahrgenommen. Fokussiert wird weniger das Controlling, stattdessen treten stärker Beratung, Förderung und Unterstützung in den Vordergrund. 

Allerdings bilden die klassischen Aufgabenfelder der Schulaufsicht einen entscheidenden Vorsprung an System- und Prozesswissen, das die Schulaufsicht gleichermaßen als Kontroll- und Beratungsinstanz nutzen kann. Entsprechend stellte Josef Arnold, Regierungsrat des Kanton Uri, heraus: 

„Schulaufsicht wird umso wichtiger,

  • je grösser die Handlungsspielräume und Verantwortungsbereiche der Schulen werden;
  • je grösser die Unterschiede zwischen den Schulen werden und je mehr diese Unterschiede offenkundig werden;
  • je mehr die Schulen im Zusammenhang mit der erhöhten Rechenschaftspflicht professionelle Dialogpartner brauchen;
  • je höher die Erwartungen in die Ergebnisorientierung auf allen Systemebenen werden.“ (Arnold 2008, S. 5).

Aus derartigen Analysen leiteten Robert Erlinghagen und Doscha Sandvoß Grundsatzüberlegungen für gemeinsame Qualifizierungen von Schulleitungen und Schulaufsicht ab. Als zentrale Elemente werden die Etablierung von Foren für schulische Führungskräfte und die Schulaufsicht zur Reflexion des Führungshandelns und die gemeinsame Steuerung schulischer Entwicklungsprozesse vorgeschlagen (Sandvoß/Erlinghagen 2020).

Qualifizierung der Schulaufsicht im Rahmen des Programms „LiGa – Lernen im Ganztag“ 

Bereits in den 1990er Jahren wurde formuliert, dass eine Neuausrichtung der Schulaufsicht durch eine aufeinander abgestimmte Qualifizierung von schulischen Führungskräften und Schulaufsicht zu begleiten sei. Das Programm „LiGa – Lernen im Ganztag“ zeigt exemplarisch, wie diese Forderung systematisch umgesetzt werden kann. Im Rahmen der gemeinsamen Initiative von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der Stiftung Mercator entstanden seit 2016 Konzepte, die die Zusammenarbeit von Schulleitung und Schulaufsicht stärkt und auf die gemeinsame Qualitätsentwicklung von Schulen fokussiert. Im Programm sind Schulleitungen und Schulaufsichten in die schulischen Entwicklungsprozesse gemeinsam eingebunden. Zudem erhalten Schulleitungsmitglieder und Schulaufsichtsbeamte aus den am Programm beteiligten Bundesländern gemeinsame Qualifikationsangebote. In Sachsen-Anhalt ist die Form der jährlich stattfindenden Sommerakademie und der (bis 2022) jährlich stattfindenden Führungskräfteakademie für die gemeinsame Qualifizierung von Schulleitungen und Schulaufsicht gewählt worden. Das Format der Führungskräfteakademie wurde in besonderem Maße durch LiGa befördert. Parallel dazu erhielten seit 2018 Schulaufsichtsbeamte im Rahmen von LiGa die Möglichkeit, eine Qualifizierung zur systemischen Beratung zu absolvieren. (Augsburg/Flöter 2019; Schmelzer/Löffler 2020). 

Das Programm „LiGa – Lernen im Ganztag“ zielt darauf ab, die Kompetenzen der Schulaufsicht aktiv als Instrument der Schulentwicklung einzusetzen und ein gemeinsames Verständnis für diese Schulentwicklungsprozesse zu entwickeln. Die Schulaufsichtsbeamten sind dadurch stärker dazu angehalten, eine produktive Balance zwischen ihren Aufgabenschwerpunkten aus schulfachlicher Aufsicht und Beratung zu finden. Den damit verbundenen Rollenwechsel hin zur Beratung bezeichneten Frank Schmelzer und Jana Löffler als paradigmatisch, „da er nicht innerhalb der Kulturtechnik stattfindet, sondern die Kulturtechnik wechseln sollte – von der Führung hin zur Beratung“ (Schmelzer/Löffler 2020, S. 95). Dieser Wechsel, der bisher allerdings erst ansatzweise gelungen ist, steht auch im Zusammenhang mit den Herausforderungen der wachsenden Eigenständigkeit der Schulen und der Schulleitungen, die von der Schulaufsicht jenen Rollenwechsel hin zum schulfachlichen Berater fordern. 

Rollenverständnis einer modernen Schulaufsicht

Allerdings haben weder die sich überlagernden Krisensituationen noch die größere Selbstständigkeit der Schulen die Führungsaufgaben der Schulaufsicht grundlegend verändert. Die von Christoph Burkard umrissenen komplexen Aufgabenfelder der Schulaufsicht stehen weiterhin im Zentrum einer professionellen Arbeitsbeziehung zwischen Schulleitungen und Schulaufsicht. Charakter und Qualität des Verhältnisses zwischen beiden Akteursgruppen haben sich aber sukzessive verschoben. 

Nach wie vor hat die Schulaufsicht aus ihrem traditionellen Verantwortungsbereich heraus Führung wahrzunehmen, und beaufsichtigt aus schulfachlicher Perspektive die Schulen ihres Aufsichtsbereiches. Gleichzeitig übernimmt die Schulaufsicht aber immer stärker die Rolle des schulfachlichen Beraters. Sie berät, begleitet und unterstützt unter Berücksichtigung der strukturellen, organisatorischen und personellen Rahmenbedingungen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse der einzelnen Schule. Sie berät und steuert aus der Perspektive der systemischen Organisationsberatung Entwicklungs- und Veränderungsprozesse aller Schulen des jeweiligen Aufsichtsbereichs. 

Die Herausforderungen für Schulaufsichtsbeamte bestehen heute daher nicht in einem paradigmatischen Rollenwechsel, sondern vielmehr in einem syntagmatischen Rollenverständnis, das gleichermaßen die Rolle als Schul-Aufsicht sowie die Doppelrolle aus systemischer und individueller Schulentwicklungs-Beratung umfasst. 

Zur Person

Prof. Dr. Jonas Flöter ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Bildungstheorie, der Evaluation von Bildungssystemen sowie der Sozial- und Problemgeschichte des Bildungswesens. Von 2016 bis März 2020 war Jonas Flöter Referent für die Führungskräfteentwicklung am Landesschulamt Sachsen-Anhalt.

Literatur

Arnold, Josef (2008): Bericht und Antrag des Regierungsrats an den Landrat zur Änderung der Schulverordnung (Einführung der externen Evaluation und Neuausrichtung der Schulaufsicht), 16.12.2008 

Augsburg, Ralf; Flöter, Jonas (2019): Sachsen-Anhalt. „Lernen im Ganztag“ mit der Schulaufsicht

Burkard, Christoph (1998): Schulentwicklung durch Evaluation? Handlungsmöglichkeiten der Schulaufsicht bei der Qualitätsentwicklung und -sicherung von Schule. Frankfurt a. M.: Peter Lang 

Erlinghagen, Robert; Sandvoß, Doscha (2020): „Zusammen ist man weniger allein“. Weshalb und wie Schulaufsicht und Schulen stärker kooperieren sollen. In: Stephan Gerhard Huber, Siegfried Arnz, Torsten Klieme (Hrsg.): Schulaufsicht im Wandel. Rollen und Aufgaben neu denken. Stuttgart: Raabe, S. 323–340.

Schmelzer, Frank; Löffler, Jana (2020): Anspruch und Wirklichkeit. Vom erschöpften Alleskönner zum wirksamen Supervisor der Schulentwicklung. In: Stephan Gerhard Huber, Siegfried Arnz, Torsten Klieme (Hrsg.): Schulaufsicht im Wandel. Rollen und Aufgaben neu denken. Stuttgart: Raabe, S. 88–108.
 

 

  • Erscheinungsdatum: 11.07.2023